Universität Zürich ernennt Werner Müller zum Ehrendoktor

Die Universität Zürich hat Werner Müller am 24. April 2021 zum Ehrendoktor ernannt. Der frühere Geschäftsführer von BirdLife Schweiz ist damit innert fünf Jahren bereits der zweite BirdLife-Vertreter, dem diese Ehre zuteil wurde: 2016 hatte die Vetsuisse-Fakultät Ernst Michael Kistler, den langjährigen Geschäftsführer von BirdLife Zürich, mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.

Die doppelte Ehrung zeigt, wie fundiert BirdLife Naturschutz betreibt. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät verlieh den Ehrendoktor an Werner Müller „für sein Lebenswerk im Bereich der evidenzbasierten Naturschutzbiologie, für seinen unermüdlichen Einsatz für den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik und für den Schutz und Erhalt der Biodiversität und natürlicher Lebensräume in der Schweiz und weltweit."

Über die überraschende Ehrung freute sich Werner Müller riesig und widmete sie gleich der ganzen BirdLife-Familie: „Was die Universität Zürich würdigt, haben wir zusammen erreicht, in der gemeinsamen Arbeit von BirdLife Schweiz mit dem Vorstand und den Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsstelle und mit den vielen Naturschützerinnen und Naturschützern in den BirdLife-Landesorganisationen, -Kantonalverbänden und -Sektionen," sagte er nach der Ehrung und dankte allen für die wichtige Zusammenarbeit. Einen ganz besonderen Dank richtete er an seine Partnerin Christa Glauser, die stellvertretende Geschäftsführerin von BirdLife Schweiz. Der Verband gratuliert dem Geehrten ganz herzlich. Für den Vorstand und die Geschäftsstelle ist die Ehrung ein grosser Ansporn, auf dem eingeschlagenen Weg der evidenzbasierten Naturschutzarbeit weiterzufahren.

«Evidenzbasiert» bedeutet, dass der Naturschutz auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgt, die aus Beobachtungen zusammengetragen und bewertet werden. Eine solche Arbeitsweise lässt sich also nicht durch Meinungen oder durch ein Schielen auf das, was einzelne Bevölkerungsgruppen hören wollen, beeinflussen. Vielmehr wird bei auftauchenden Naturschutzfragen das bestehende Wissen aufgearbeitet, werden Wirkungskontrollen von bisherigen Schutzprojekten konsultiert und daraus Empfehlungen abgeleitet.

Ein Beispiel ist die Förderung des Mittelspechts. Vor einem knappen halben Jahrhundert wusste man sehr wenig über den heimlichen Specht in der Schweiz. Werner Müller und Jost Bühlmann starteten 1975 systematische Bestandsaufnahmen. Bereits 1982 präsentierte Müller, unterdessen für BirdLife Schweiz tätig, eine umfassende Korrelationsanalyse zu den detaillierten Lebensraumansprüchen des Mittelspechts – die Datenauswertung erfolgte noch mit Lochkarten zusammen mit Professor Bernhard Nievergelt. Zugleich wurden Folgerungen für Schutzmassnahmen gezogen. Heute ist die Eichen- und Alt- und Totholzförderung in vielen Kantonen Standard. Der Aktionsplan Mittelspecht des Bundesamts für Umwelt (Bafu), von BirdLife Schweiz und der Schweizerischen Vogelwarte wird umgesetzt.

Der evidenzbasierte Naturschutz verlangt nicht nur nach wissenschaftlichen Grundlagen bei der Schutzarbeit, sondern auch nach Wirkungskontrollen. Für den Mittelspecht erfolgte diese 2019 durch Martin Schuck von BirdLife Schweiz und Mitautoren (darunter wiederum Werner Müller).

Auf die volle Berücksichtigung des evidenzbasierten Naturschutzes pochen BirdLife und andere Naturschutzorganisationen seit Jahrzehnten bei den Schutzgebieten. Während wissenschaftliche Fakten für einige kantonale Entscheidungsträger bestenfalls interessante Hinweise bilden, werden sie von Gerichten normalerweise als Richtschnur genommen. Ernst Kistler von BirdLife Zürich führte zusammen mit BirdLife Schweiz auf wissenschaftlicher Grundlage viele beispielhafte Rechtsfälle, um ausreichende Pufferzonen bei Biotopen von nationaler Bedeutung durchzusetzen. Die Gerichte folgten der faktenbasierten Argumentation und verlangten Nährstoff-, Störungs- und hydrologische Pufferzonen. Heute sind diese Pufferzonen fachlich nicht mehr bestritten – wenn auch noch an vielen Orten nicht umgesetzt.

Beim Kiebitz wusste man vor einem Dutzend Jahren vor  allem dank Forschungsarbeiten der Vogelwarte im Wauwilermoos vieles über Brutvögel im Ackerland, aber auch in Riedgebieten wie im Neeracherried einiges. Werner Müller fasste das damals aktuelle fachliche Wissen zu Schutzmassnahmen für den Kiebitz 2009 zusammen mit Christa Glauser, Thomas Sattler und Luc Schifferli im Ornithologischen Beobachter der Ala zusammen. Dabei zeigte sich, dass bei den vielen lokalen Schutzprojekten ein ganz entscheidender Punkt nicht bekannt war: der Bruterfolg der gezählten Kiebitzpaare. Für eine langfristige Sicherung der Bestände müssen im Durchschnitt pro Paar 0,8 Junge flügge werden.

2010 übernahm Raffael Ayé die Leitung der BirdLife-Artenförderung, und seit jenem Jahr erfasst die Orniplan AG im Auftrag von BirdLife Schweiz jährlich für alle Brutplätze die durchgeführten Massnahmen und die konkrete Wirkung von Schutzmassnahmen. Es ist zu hoffen, dass dieser Erfahrungsschatz bald genutzt wird, um erneut Bilanz zu ziehen – und Müllers Arbeit mit den neuen Ergebnissen zu ersetzen.

Evidenzbasierter Naturschutz heisst auch, immer die neusten wissenschaftlichen Grundlagen als Basis zu nehmen. Alle Artenförderungsprojekte von BirdLife Schweiz basieren auf einer guten wissenschaftlichen Basis; die neuen Erfahrungen aus den Projekten fliessen laufend in die Artenförderung ein.

Seit über vierzig Jahren führt BirdLife Schweiz Kampagnen durch. 1979 hatte der langjährige Präsident Fritz Hirt das Jahr der Hecken ausgerufen und für die Umsetzung Werner Müller angestellt. BirdLife Schweiz versucht immer, für die Themenwahl im Sinne des evidenzbasierten Naturschutzes die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen  und keinesfalls einfach das aufzunehmen, was gerade im Trend liegt. Bereits 1988 erschien bei BirdLife das Themenheft zu den “Vernetzten Lebensräumen”. Kurz zuvor waren die ersten wissenschaftlichen Studien zur Wirkung der Zerschneidung der Landschaft publiziert worden. Die Vernetzung war damals noch nicht wie heute Mainstream sondern wurde auch dank der BirdLife-Informationsarbeit bekannt.

Gleiches gilt für die Kleinstrukturen, das Thema der BirdLife-Kampagne 2002-2005. Als sich 2004 die Frage des folgenden Kampagnenthemas stellte, war gerade vom Forum Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (Scnat) unter Leitung von Daniela Pauli das erste umfassende Buch zur Biodiversität in der Schweiz erschienen. Professor Bruno Baur und Mitautorinnen gaben dem Werk den Untertitel “Wissenschaftliche Grundlagen für eine nationale Strategie”. Das elektrisierte die BirdLife-Geschäftsführung. Noch im gleichen Jahr gründeten Nationalrat Kurt Fluri und Werner Müller die Parlamentarische Gruppe Biodiversität, um den Dialog Politik – Wissenschaft – Naturschutz zu stärken. Und ab 2006 setzte sich BirdLife Schweiz mit der Kampagne “Biodiversität – Vielfalt ist Reichtum” dafür ein, den Naturschutz in der Schweiz aufgrund der wissenschaftlichen Fakten voranzubringen. Eine ganz wichtige Rolle spielen dabei die vom Forum Biodiversität unter Professor Florian Altermatt, Daniela Pauli und Jodok Guntern erarbeiteteten Grundlagenberichte. BirdLife Schweiz füllte den wissenschaftlichen Begriff «Biodiversität» für eine breitere Bevölkerung mit Inhalt und setzte sich stark für die Biodiversitätsstrategie des Bundes und den Aktionsplan der Zivilgesellschaft ein. Die letzten Früchte der BirdLife-Biodiversitätsarbeit sind die Biodiversitätsinitiative und der vom Bundesrat soeben lancierte Gegenvorschlag dazu.

Die Ehrung der Universität Zürich für Dr. h.c. Werner Müller und schon vorher für Dr. h.c. Ernst Kistler ist für die ganze BirdLife-Familie ein Ansporn, mit der evidenzbasierten Naturschutzarbeit unvermindert weiterzufahren und sie noch zu verstärken.

27.4.2021