Neue Analyse: So hat sich die Vogelwelt in den letzten 100 Jahren verändert

Medienmitteilung von BirdLife Schweiz vom 25.1.2023

Langfristige Veränderungen der Biodiversität sind oftmals nur ungenügend dokumentiert. Anlässlich seines 100-Jahr-Jubiläums untersuchte die Naturschutzorganisation BirdLife Schweiz deshalb, wie die Vogelwelt bei ihrer Gründung im Jahr 1922 ausgesehen hat. Die Analyse fördert spannende Fakten zutage und zeigt, wie rasant sich unser Land in nur vier Generationen verändert hat.

Hundert Jahre sind weltgeschichtlich keine lange Zeit – es ist ein Zeitraum von nur vier Generationen. Und doch hat sich die Schweiz in dieser kurzen Zeitspanne so stark verändert wie nie zuvor. Aus Anlass des 100-Jahre-Jubiläums von BirdLife Schweiz wollte die Naturschutzorganisation wissen, wie die Vogelwelt damals, im Jahr 1922, in der Schweiz ausgesehen hat. Dr. Beat Wartmann, der Autor des Berichts, hat dafür hunderte alte Karteikarten durchforstet und antike Bücher und weitere Quellen analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass wir einen ungeheuren Schwund der naturnahen Lebensräume zu beklagen haben.

«Niemand kann sich heute mehr an diese Zeit zurückerinnern», sagt Beat Wartmann, Vizepräsident von BirdLife Schweiz. «Deshalb ist es auch den meisten Menschen gar nicht bewusst, wir dramatisch schlecht es den Vögeln heutzutage geht.» Weil die Veränderungen schleichend und langsam geschehen, gewöhnt sich der Mensch immer wieder an die neue Situation. «Diese shifting baseline verhindert, dass die Menschen das Ausmass des Problems sehen und verstehen.»

Brachvogel, Raubwürger und Steinkauz

Die Analyse, die in der Zeitschrift Ornis erschienen ist, zeigt, dass die Kulturlandschaft vor 100 Jahren noch vielen anspruchsvolleren, sprich spezialisierten Arten einen Lebensraum bot:

  • In der Linthebene und in anderen Feuchtgebieten brüteten noch Kiebitz, Grosser Brachvogel, Bekassine und Rotschenkel wie auch Tüpfelsumpfhuhn, Kleines Sumpfhuhn und Zwergsumpfhuhn. Von diesen Arten ist nur der Kiebitz als Brutvogel übrig, doch er überlebt nur dank Artenfördermassnahmen von BirdLife Schweiz und anderen Partnern.
     
  • Im Mittelland, ja selbst im Umfeld der Stadt Zürich, waren Arten wie Rebhuhn, Grauammer, Baumpieper, Raubwürger oder Braunkehlchen häufig anzutreffen. Das Rebhuhn – heute schweizweit ausgestorben – wurde gar noch bejagt. All diese Arten benötigen eine naturnahe, artenreiche Feld- und Wiesenflur, teils mit blütenreichen Wiesen und kleinparzellierten Äckern, teils mit Hecken und ungenutzten Bereichen oder breitem gestuftem Waldrand. Die Arten sind heute im Mittelland fast oder ganz ausgestorben, Rebhuhn und Raubwürger sind sogar schweizweit ausgestorben.
     
  • In den Obstgärten um die Siedlungen brüteten damals noch Rotkopfwürger, Gartenrotschwanz, Wendehals und Steinkauz. Ersterer ist heute in der Schweiz ausgestorben, für die anderen drei Arten laufen aufgrund ihrer Gefährdung Artenschutzprojekte von BirdLife Schweiz. Alle sind im Mittelland äusserst selten geworden; ihre Förderung ist aufwändig.
     

«Diese Arten halten uns den Spiegel vor», sagt Beat Wartmann, Autor des Berichts. «Sie zeigen, was wir an Artenvielfalt verloren haben, denn mit ihnen sind auch unzählige andere Arten und ganze Lebensräume verschwunden.»

Nicht verschwiegen werden soll, dass sich in den letzten 100 Jahren auch ein paar neue Arten ansiedeln oder Terrain gutmachen konnten. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Kulturfolger oder besonders anpassungsfähige Arten wie Türkentaube, Alpensegler oder Saatkrähe. Aufgrund besserer Jagdgesetze erholten sich zudem mehrere Reiher- und Greifvogelarten, die früher rigoros verfolgt worden waren.

Anbauschlacht und Meliorationen

Dennoch stehen heute 60 % der Vögel auf der Schweizer Roten Liste oder Vorwarnliste. Verheerend für viele Arten war die Landwirtschaftspolitik, beginnend mit der «Anbauschlacht» während des Zweiten Weltkriegs: 60'000 ha Land wurden damals entwässert, 11'000 ha Wald gerodet und 80'000 ha Land melioriert. Eine weitere Aktion, die der Natur massiv schadete, war die Obstbaum-Fällaktion ab 1955. Wegen grassierendem Alkoholismus verordnete der Bundesrat das Fällen von Millionen von Bäumen. Auch in späteren Jahrzehnten bewirkte die immer intensiver betriebene Landwirtschaft und das sukzessive Entfernen von naturnahen Strukturen, dass heute im Agrarland fast keine Vogelarten mehr brüten oder überleben können, selbst die einstmals häufige Feldlerche steht heute auf der Roten Liste. Nur Mäusejäger wie der Rotmilan und anpassungsfähige Generalisten wie die Krähen nehmen zu, denn sie finden noch genügend Nahrung.

Die grossen Flüsse hingegen wurden schon früher kanalisiert. Die meisten Sümpfe wurden drainiert und zu Ackerland umgewandelt. Über 90 % der Feuchtgebiete sind bis dato verschwunden.

Heckenaktion und Artenförderprojekte

Dass nicht noch mehr Natur zerstört wurde und noch mehr Vögel verschwanden, ist auch ein Verdienst von BirdLife Schweiz und anderen Naturschutzorganisationen. Mit zahlreichen nationalen bis lokalen Naturschutzprojekten und Kampagnen gibt BirdLife Gegensteuer. Dank einer schweizweiten Heckenaktion in den 1980er-Jahren wurden zehntausende Sträucher gepflanzt. Heute laufen Artenförderprojekte für rund 30 Vogelarten. Arten wie der Kiebitz oder der Steinkauz konnten dadurch ihre Bestände wieder erhöhen. In wichtigen Lebensräumen wie dem Neeracherried ZH, dem Hochmoor von Rothenthurm SZ/ZG oder dem Obstgarten Farnsberg BL laufen BirdLife-Aufwertungsprojekte (Überblick: birdlife.ch/projekte). Jüngst hinzugekommen sind die «Naturjuwelen»-Projekte im Rahmen des 100-Jahre-Jubiläums: An 150 Orten sind Aufwertungen geplant oder werden neue Lebensräume geschaffen. Bei dem Projekt handelt es sich um eine fruchtbare Zusammenarbeit der BirdLife-Sektionen und -Kantonalverbände und der nationalen Ebene.

Riesiger Handlungsbedarf

Zusätzlich braucht es endlich eine Landwirtschaftspolitik, die eine nachhaltige Bewirtschaftung inklusive qualitätsvollen Massnahmen für die Biodiversität ermöglicht. Überdies braucht die Schweiz nun dringend ein Lebensnetz für die Biodiversität: Dieses Lebensnetz, die Ökologische Infrastruktur, ist ein landesweites System von Schutzgebieten, das die Hotspots der Biodiversität umfasst. Weniger als 10 % der Schweizer Landesfläche stehen bisher unter Schutz. Selbst in diesen Schutzgebieten bestehen in Bezug auf die Qualität noch Defizite. Die Roten Listen der Schweiz sind im Vergleich mit anderen OECD-Ländern besonders lang. Der Handlungsbedarf ist also riesig. Um die Biodiversität zu erhalten, müssen ca. 30 % der Fläche gesichert werden, wie auch die internationale Staatengemeinschaft am Weltnaturgipfel COP15 festgehalten hat. Da bereits zu viele Ökosysteme zerstört wurden, reicht alleine der Schutz bestehender Gebiete nicht mehr. Wertvolle Ökosysteme müssen in den Gebieten mit hohem Potenzial wiederhergestellt werden. Am Weltnaturgipfel in Montreal haben 196 Staaten beschlossen, 30 % der beeinträchtigten oder zerstörten Ökosysteme wiederherzustellen. BirdLife Schweiz, seine Kantonalverbände und lokalen Sektionen engagieren sich von der Gemeinde bis zum Bund für den Aufbau der Ökologischen Infrastruktur. Im Jahr 2023 wird die BirdLife-Familie der Wiederherstellung von Ökosystemen besondere Aufmerksamkeit schenken.

 

BirdLife Schweiz: gemeinsam für die Biodiversität – lokal bis weltweit

BirdLife Schweiz engagiert sich mit Fachkenntnis und Herzblut für die Natur. Mit 69'000 Mitgliedern, 430 lokalen Sektionen, Kantonalverbänden und BirdLife-Organisationen in 115 Ländern ist BirdLife Schweiz Teil des grössten Naturschutz-Netzwerks der Welt: BirdLife International – in der Gemeinde verwurzelt, weltweit wirksam.

Gemeinsam mit unseren Mitgliedern setzen wir uns für die Biodiversität ein. Wir führen zahlreiche Schutzprojekte für gefährdete Arten und ihre Lebensräume durch, vom Steinkauz über den Eisvogel bis zur Ökologischen Infrastruktur. Mit den BirdLife-Naturzentren, der Zeitschrift Ornis und vielfältigen BirdLife-Kursen machen wir die Natur hautnah erlebbar und motivieren zu ihrem Schutz.

Gemeinsam mit Ihnen? Erfahren Sie mehr und werden Sie Teil des BirdLife-Netzwerks: birdlife.ch

BirdLife Schweiz dankt für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung.
 

 


Bilder

Das Rebhuhn – heute landesweit ausgestorben – war 1922 noch häufig und wurde bejagt.

Foto: Aus J.F. Naumann: Vögel Mitteleuropas, 1897-1903


Der Raubwürger brütete damals vielerorts im Mittelland. Heute ist er längst ausgestorben.

Foto: Aus J.F. Naumann: Vögel Mitteleuropas, 1897-1903


Die Bekassine war vor 100 Jahren ein Brutvogel der Feuchtgebiete. Weil 80 % der Sümpfe zerstört wurden, ist auch sie als Brutvogel verschwunden.

Foto: Aus J.F. Naumann: Vögel Mitteleuropas, 1897-1903


Brütete damals noch mitten in der Stadt: die Haubenlerche.

Foto: Aus W. Knopfli 1971

Das Bild darf nur im Zusammenhang mit dieser Medienmitteilung und unter korrekter Angabe des Fotografen verwendet werden.


Die Ebene nördlich des Greifensees ZH war vor 100 Jahren dominiert von Mooren und Riedwiesen. Im oberen Drittel rechts sind die Gebäude des Flughafens Dübendorf zu sehen. Die Flugzeuge landeten noch auf der Wiese.

Foto: e-pics ETH-BIB, Walter Mittelholzer 1919

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Die Region um Greifen- und Pfäffikersee 1922 (Bild 1) und heute (Bild 2). Die Zunahme der Siedlungsfläche ist offensichtlich, die Trockenlegung der Riede etwas weniger.

Foto: map.geo.admin.ch


Die Region um Greifen- und Pfäffikersee 1922 (Bild 1) und heute (Bild 2). Die Zunahme der Siedlungsfläche ist offensichtlich, die Trockenlegung der Riede etwas weniger.

Foto: map.geo.admin.ch

 


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Auskünfte

Stefan Bachmann, Medienverantwortlicher BirdLife Schweiz, stefan.bachmann@birdlife.ch, Tel. 078 740 50 51